Ich habe einen Leserbrief zum Artikel in der Heilbronner Stimme vom 31. August 2021 „Weidel kritisiert Bundesregierung scharf“ geschrieben. Weil er viel zu lang war, veröffentliche ich ihn auf meiner Webseite.

Als ein Beitrag zur Bundestagswahl nehme ich Stellung zum Stimme-Wahlcheck mit Alice Weidel,
siehe https://www.stimme.de/bundestagswahl2021/wahlchecks/live-stimme-wahlcheck-mit-alice-weidel-afd-bundestagswahl-btw21;art143940,4525219 und den Artikel über die Veranstaltung in der Heilbronner Stimme vom 31.8.2021

Mein Hauptaugenmerk liegt auf den Argumentationsstrategien von Frau Weidel im Gespräch mit Stimme Chefredakteur Uwe Ralf Heer.


War es richtig, beim Stimme-Wahlcheck Alice Weidel einzuladen? Ist die AFD eine demokratische Partei? Das hängt meines Erachtens davon ab, wie die Partei in Zukunft umgeht mit dem „Flügel“ um Björn Höcke, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Klarheit dazu wird es erst Ende November bei der Neuwahl der Parteispitze geben – da hat die Bundestagswahl schon stattgefunden.

Die Heilbronner Stimme regt mit der Einladung und ausführlichen Berichterstattung zu Diskussion an – das finde ich gut. Allerdings will gutes Debattieren und Argumentieren gelernt sein.

Frau Weidel gilt als gute Rhetorikerin. In einigen Punkten bedient sie sich jedoch zweifelhaften Argumentationsstrategien.

Ein Beispiel: „Wir können nicht die ganze Welt bei uns aufnehmen“. Hier wird die Realität bzw. eine Forderung (hier: Flüchtlinge aufzunehmen) verzerrt, um die eigene Position zu stärken – ein so genanntes Strohmann-Argument. Niemand will die ganze Welt aufnehmen, und die ganze Welt will sicher nicht nach Deutschland. Sachliche Argumentation – Was heißt das, dass wir nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen „können“? – wird hier untergraben.

Frau Weidel spricht von 280.000 ausreisepflichtigen Ausländern. Was Frau Weidel nicht sagt: Davon waren Ende 2020 circa 235.000 Menschen geduldet. Eine Duldung erhalten beispielsweise Menschen, die Eltern aufenthaltsberechtigter minderjähriger Kinder sind, die zum Zweck der Ausbildung oder Beschäftigung in Deutschland geduldet sind oder bei denen ein Abschiebestopp in das Herkunftsland besteht. Diese Zusatzinformation lässt Frau Weidel weg – ein beliebtes Mittel, um in Diskussionen in erster Linie die Punkte zu betonen, die dem eigenen Standpunkt nutzen! Hier müsste meiner Meinung nach guter Journalismus mit gezielten Nachfragen ansetzen: „Plädieren Sie dafür, Eltern minderjähriger schulpflichtiger Kinder abzuschieben? Wie sieht es mit Menschen in Ausbildung aus? Was heißt für Sie sicheres Herkunftsland?“ Zugegeben provokative Fragen, deren Beantwortung aber Klärung bringen kann.

Als ein Element der „Opferinszenierung“ kann man die folgende Aussage Frau Weidels zum Thema Abschiebungen bezeichnen: „Jeder, der darüber diskutieren möchte, wird gleich als Nazi dargestellt.“ – Eine Strategie innerhalb der AFD, politisch Andersdenkenden Verleumdung zu unterstellen nach dem Motto: „Mutig gehen wir das Thema an und werden dann verkannt.“

Manche mögen einwenden, dass sich die anderen Politiker auch solcher oder ähnlicher Gesprächsstrategien bedienen. Dabei tappt man allerdings in die Falle des „Pappkameraden“ (auch Whataboutism genannt), eine Bezeichnung für ein Ablenkungsmanöver, mit dem man relativeren möchte, ein Fehlverhalten mit anderen vergleicht und vom Thema ablenken möchte. Ich spreche hier explizit über Frau Weidel und die AFD.

Nach der Lektüre habe ich mir auch Ausschnitte des Videos auf www.stimme.de angeschaut. Viele Aussagen von Frau Weidel widersprechen meiner politischen Meinung. Vieles, was auch im Artikel angesprochen wurde, empfinde ich als „selbstentlarvend“, etwa ihre Äußerungen zur Pandemie. Problematisch empfinde ich bei ihren Ausführungen zur Flüchtlingspolitik populistische Begriffe wie „Flüchtlingsstrom“ und Sätze wie jenen, dass jeder, der als Flüchtling eine Straftat begehe, das „Gastrecht“ verwirkt habe. Frau Weidel, die sonst im Gespräch vehement auf die Einhaltung der gesetzlichen Grundlage in der Asylpolitik pocht, verwendet hier einen Begriff, den es nach deutschen Recht gar nicht gibt.

Und ein bisschen Angst machen gehört auch zu ihrem Repertoire: Sie spricht von circa 5 Millionen neuen Flüchtlingen aus Afghanistan, da man den worst case annehmen sollte. Um eine andere Stimme zu Wort kommen zu lassen: Der renommierte Migrationsforscher Gerald Knaus betrachtet die Situation heute als „radikal anders“ als 2015. Die radikal-islamischen Taliban würden Land und Grenzen streng kontrollieren. Auch die Nachbarländer und die Türkei hätten angekündigt, ihre entsprechenden Grenzen zu schließen.

„Um Geschlechtergerechtigkeit in die muslimische Welt zu tragen, mussten deutsche Männer dort ihr Leben lassen. Wie viele afghanische Frauen in höchsten Ämtern oder Mädchen in Schulen wiegen eigentlich einen deutschen toten Soldaten auf?“ Von dieser Äußerung Alexander Gaulands im Deutschen Bundestag am 25.August distanziert sich Alice Weidel ausdrücklich nicht: „Er hat Recht.“ Gauland und Weidel stellen hier eine falsche Kausalität her. Der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des „Kriegs gegen den Terror“ und des Nation Building hatte nichts mit Gendern zu tun. Es ging um Menschenrechte, auch für Frauen.

Zurück zum Thema Debattenkultur: Im Eifer des Gefechts verwenden die allermeisten Menschen – auch ich – unlautere Argumente. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema hilft dabei, Manipulationen zu durchschauen und selbst sachlicher in Gesprächen zu agieren.

Mein Fazit: Gutes Debattieren ist ein Thema für die politische Bildung – in der Schule und in der Erwachsenenbildung