November 2024 – Stippvisite in Peking. Leichter Nieselregen passt gut zum Industriedesign des Ausstellungsgeländes 798. Mit K, einer Germanistikstudentin, besuche ich dort das Atelier von 郝俪Hao Li.

Hao Li ist eine gute langjährige Bekannte meiner chinesischen Freundin Y, einer Sammlerin von Hao Lis Werken. Auf ihre Empfehlung hin besuchen wir Hao Lis Atelier, weil dort gerade eine Ausstellung mit tibetischer Kunst laufen soll. Wir kommen allerdings zu spät für die Ausstellung. Die beiden Frauen, die wir im Empfangsraum treffen, sind gleich bereit, uns die noch nicht abtransportierten Gemälde zu zeigen. Wir steigen mit ihnen eine Treppe hinauf zu einer Empore, von der eine Abstellkammer abgeht. Auf engem Raum stehen ein Tisch, ein Sofa und zwei Polstersessel älteren Datums. Die Bilder werden vorsichtig aus der Kammer herausgeholt und uns notdürftig präsentiert, wir haben kaum Platz, sie uns genau anzuschauen. Aber dennoch: Ich denke, in Europa käme das sehr selten vor, dass man uns so ohne große Umstände in die „hinteren Gemächer“ führt…

Kaufen werden wir die Bilder nicht, wir danken und steigen die Treppe wieder hinunter. Ich sehe, dass die Bilder der neuen Ausstellung, auf wir im ersten Ausstellungsraum einen Blick werfen, K‘s Interesse finden. Also beschließen wir, die Bilder anzuschauen. Ich stelle mir einen jungen Künstler vor, tatsächlich ist es eine junge Frau aus der Inneren Mongolei namens 宋丹Song Dan. Nach der chinesischen Zählweise gehört sie zu den „90hou“, d.h. sie ist zwischen 1990 und 2000 geboren. In ihren jüngsten Kunstwerken stellt Song Dan einäugige Außerirdische (独眼兔) mit „freundlicher Absicht“ aus, in bunt gestalteten Ölbildern, auch gerne in Rosafarben. K liebt Rosa!

Unterhalb einer Bilderreihe mit kleineren Bildern lese ich auf die Wand gepinselt den Satz: „A cat has mne lies“, Was heißt das? WIND (商亮), der Kurator der Ausstellung, ist dazugekommen und erläutert: „猫有九个谎说!“ Ah, eine Katze hat neun Lügen? Da erst erkenne ich, dass mit lila Farbe ein kleines „v“ eingefügt ist. Natürlich: 9 Katzenbilder! Eine Katze hat neun Leben! Wieder freue ich mich: Sonstwo hätte man Farbe geholt, den Spruch überpinselt und neu geschrieben. In China lebt die Improvisation!

mit lila Farbe ein kleines „v“

Und dann ist sie plötzlich da, Hao Li, die Künstlerin, über wechat herbeigerufen von ihrer Mitarbeiterin. Gäste aus Deutschland – sie lässt es sich nicht nehmen, uns zu begrüßen. Und lädt uns freundlich zum Tee ein. Ich bin kurz unsicher, K sieht so aus, als wolle sie ablehnen. Ich sage jedoch spontan zu.

Am runden Tisch trinken wir Pu’er-Tee. WIND schwärmt von Europa, von England, wo er einige Zeit verbracht hat, und von Deutschland, das er von Europareisen kennt. Hao Li erzählt, wie sie zu Beginn der 00er Jahre ein Mitglied der Deutschen Botschaft in Peking kennenlernte, der sie später nach Deutschland einlud und einer ihrer Förderer wurde. Sie ist Deutschland somit sehr freundschaftlich verbunden.

Ich wusste gar nichts über Hao Li. Aus ihren Erzählungen setzt sich das Bild zusammen.

1975 wurde sie in einem Dorf in der Provinz Hebei geboren. Mit der Kunst in Berührung kam sie erst im Alter von 19 Jahren. „Ich hatte Glück, aber vor allem: Ich hatte ein großes Talent!“

Nach meiner Rückkehr habe ich nachgelesen. Ihr Geburtsort ist ein Dorf in der Großgemeinde Xibaipo 西柏坡镇 nahe der Stadt Shijiazhuang in Hebei. Als drittes Mädchen in der Familie war Hao Li in ihrer Familie nicht willkommen. Als dann der ersehnte Sohn kam, drohte der Vater damit, sie im Austausch mit einer zukünftigen Schwiegertochter aus der Familie wegzugeben. Nach der neunjährigen Schulbildung begann das Leben einer 打工妹, einer ungebildeten Arbeiterin, in verschiedenen Fabriken, wo immer es Arbeit gab. Wie viele Frauen verdingte sie sich als Kindermädchen bei wohlhabenden Familien. Auf diese Weise lernte sie einen Kunstlehrer kennen, der zusagte, sie im Gegenzug zu ihrer Arbeit in der Familie in Malerei zu unterrichten. Auf diese Weise kam sie 1994 nach Peking und auf diese Weise wurde ihr Talent entdeckt.

Die Künstlerin vor einem ihrer Kunstwerke http://www.lizijianmsg.com/post/85.html

Die Mitarbeiterinnen bringen die zahlreichen Ausstellungskataloge, die wir mit großem Interesse durchblättern. Ich genieße das Gespräch und fühle mich im Kreis der Chines*innen wunderbar angenommen. K stellt kluge Fragen, auf die Hao Li gerne eingeht. Ich habe vor zwei Jahren in bescheidenem Rahmen eine Ausstellung von Kunstwerken aus China zusammengestellt und dabei fiel mir auf, wie sehr die Kunstszene in China von Männern dominiert wurde, in der klassischen Zeit sowieso, aber auch im 20. Jahrhundert. In der Gegenwart ändert sich das langsam. Ich spreche Hao Li auf dieses Thema an und vielleicht ist es genau diese Frage, die ihr Herz öffnet. Mit großem Engagement spricht sie von den Entbehrungen, die man als Maler(in) auf sich nimmt. Für Frauen war es nicht möglich, diesen Weg einzuschlagen und sich ganz der Malerei zu verschreiben. Für Hao Li gilt: Malen ohne Unterlass! Erst hat sie wie eine Besessene gelernt, denn trotz Talent war es eine Mammutaufgabe, das Metier beherrschen zu lernen. Nun braucht sie ihre ganze Zeit, um künstlerisch aktiv zu sein.

Ich lese später: In 23 Jahren hat Hao Li 4600 Kunstwerke geschaffen. Sie arbeitet als Malerin, Bildhauerin und Kunstdruckerin. 2001 schloss sie ihr Kunststudium an der Abteilung für Druckgrafik der Zentralen Akademie der Schönen Künste in Beijing ab. 2009 gründete sie das „Hao Li Art Centre“ im Pekinger Kunstbezirk 798. Neben Ausstellung in ihrem eigenen Atelier stellt(e) sie sowohl in China als auch im Ausland, u.a. in USA, Frankreich, Deutschland (Bonn, Berlin und Düsseldorf) sowie in Dänemark aus. (Quelle: https://www.pgm.org.cn/pgm/thdsy/zl_ysj.shtml). Sammler*innen ihrer Werke finden sich auf der ganzen Welt.

Ihre Bilder zu beschreiben fällt mir nicht leicht. Sie haben immer einen subjektiven Bezug, sind ausdrucksstark und in aller Regel farbenfroh. Mit vielen Anknüpfungspunkten an die chinesische Volkskunst. Viele Bezüge zur eigenen Kindheit und zum Landleben in China – zum Beispiel zu den Genüssen der Kindheit.

Äpfel – eine Kostbarkeit für Kinder: Die Erinnerung lebt in den Geschmacksknospen. (https://www.taoart.com/information/detail/51306.htm)

Das Frauenthema fasziniert Hao Li, das merkt man ihr im Gespräch deutlich an. Mädchen und Frauen sind ein wichtiges Sujet für sie. Gerade in China, wo Frauen benachteiligt sind nach dem Prinzip 重男轻女: Die Jungen werden gegenüber den Mädchen bevorzugt. Mit ihrer Darstellung von schwangeren Frauen möchte Hao Li die Schönheit jeder schwangeren Frau herausstellen. Ihr Wert liege nicht allein darin, für die Familie den ersehnten Sohn zu gebären. Schwangere sollen ihren Körper nicht verstecken müssen, sondern ihn genießen und feiern.

Das Thema Muttersein bekam für Hao Li neue Bedeutung, als sie 2012 mit 37 Jahren alleinerziehende Mutter eines Sohnes wurde. Für den Sohn ist sie gerne da, heiraten möchte sie aber keinesfalls: Sie hat keine Zeit für eine Beziehung mit einem Mann. Auch Arbeit im Haushalt hält sie für maximale Zeitverschwendung. Unabhängigkeit und Selbstvertrauen, das ist ihr Credo als zeitgenössische Malerin.

Quelle: http://www.womenofchina.com/renwu/2020/1109/2723.html

Das Gespräch am Tisch ist offen, durchaus mit Tiefsinn, auch ruhig und heiter. Vor zwanzig Minuten haben wir uns noch nicht gekannt, jetzt sitzen wir in der Runde und tauschen uns ohne alle Vorbehalte aus. Dennoch wird es Zeit für uns zu gehen. Wir stellen uns auf zu den – in China als Erinnerungsstücke immer noch beliebten und obligaten – Gruppenfotos. Hao Li und ich stehen zum Foto nebeneinander, als sie zu ihrer Mitarbeiterin sagt: „Geh mal …wisperwisper… holen!“ Worum geht es? Ich werde es gleich erfahren.

Hao Li schenkt mir einen Druck eines ihrer bekannten Ölgemälde 孕欲旋舞曲 (Lustvoller Wirbeltanz der Schwangeren) mit der Nummer 107/200, von ihr signiert. Ich bin überwältigt von dieser Großzügigkeit. Zu Tränen gerührt.

Mit der Künsterlin Hao Li und ihrem Geschenk in Hao Lis Galerie

Was mich bei diesem Besuch besonders berührt hat: Die Reihe von Zufällen und die Spontanität! Erst werden uns die Bilder gezeigt, auch wenn die Ausstellung schon vorbei ist. Wir bleiben länger und schauen uns einfach die nächste Ausstellung an. Die Chefin kommt extra ins Atelier und wir werden zum Tee eingeladen. Alle verstehen sich so gut, als wäre man schon lange miteinander vertraut. Und zum Schluss das kostbare Geschenk.

Man muss den Zufälligkeiten und der Spontanität eine Chance geben!

Ich danke Hao Li für den wunderbaren Kunstdruck. Er wird in unserem Wohnzimmer seinen gebührenden Platz finden.

Ich danke Hao Li auch für diese zu Herzen gehende Begegnung.