Mit großer Bestürzung haben SinologInnen und LiebhaberInnen chinesischer Literatur vom Tod des herausragenden Literatur-Übersetzers Prof Dr. Ulrich Kautz am 7. August 2020 gelesen. Ich hatte das große Glück, Uli Kautz persönlich zu kennen und einige Zeit mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich widme ihm diesen Beitrag.
Ulrich Kautz war eine beeindruckende Persönlichkeit, mit herausragenden Chinesischkenntnissen, einer bemerkenswerten umfassenden Allgemeinbildung, großer Eloquenz und großem Scharfsinn. Er hat viele Romane, u.a. Werke von Yu Hua (z.B. „Leben“) und von Yan Lianke (z.B. „Das Blut meines Großvaters“), ins Deutsche übersetzt. Dank seiner Übersetzung wurden chinesische Romane lesbar für ein breites Publikum hierzulande.
Einen schönen Nachruf auf Ulrich Kautz, in dem auch ausführlich seine akademischen Leistungen beschrieben sind, findet man auf der Seite des Ostasien-Verlags. In überregionalen Zeitungen sucht man jedoch vergeblich nach einer Würdigung der Lebensleistung von Ulrich Kautz für die Vermittlung von chinesischer Literatur in Deutschland. In Frankreich beispielsweise war das beim (überraschenden) Tod der Literaturübersetzerin Sylvie Gentil ganz anders: Die Tageszeitung Le Monde vom 03. Mai 2017 widmete ihr einen Nachruf. Ein Zeichen dafür, dass es in Deutschland an interkultureller Offenheit – gerade auch China gegenüber – fehlt?
Ich möchte hier auf einen Roman aufmerksam machen, den Ulrich Kautz übersetzt hat und der mir außerordentlich gefallen hat. Dieser preisgekrönte Roman mit dem Titel „Der Englischlehrer“ (Titel auf Chinesisch: 英格力士 English) aus dem Jahr 2004 spielt in Urumqi (Xinjiang). Der Autor Wang Gang hat darin seine eigenen Erfahrungen als junger Mensch in den Wirren der Kulturrevolution verarbeitet. Der Roman ist spannend, aus der Sicht eines Jugendlichen geschrieben spricht er Situationen klar an, lässt aber Raum für die Phantasie des Lesers, der sich das Grauen dieser dunklen Zeit selbst ausmalen kann.
Wang Gang hat in einem Interview seine Haltung zusammengefasst, die ihn beim Schreiben geleitet hat:
„Früher waren die Schriftsteller allgemein der Auffassung, die Kulturrevolution sei einfach eine Kampagne gewesen, bei der die Bösen den Guten übel mitgespielt hätten. Die Bösen waren absolut böse und die Guten absolut gut. Die Guten waren die Opfer und die Bösen die Übeltäter. Ich habe aber das Gefühl, dass man während der Kulturrevolution nicht klar ausmachen konnte, ob jemand nun ein guter oder ein schlechter Mensch war. Mir ist aufgefallen, dass sich sehr viele alte Leute in ihren Erinnerungen an die Kulturrevolution zu den Opfern zählen und lang und breit darüber berichten, was ihnen von den anderen angetan wurde. Mir fiel allerdings auf, dass sie in der Kulturrevolution auch vieles getan haben, was anderen schadete. Sie reden nur von dem Unrecht, das ihnen selbst widerfahren ist, zeigen aber niemals Reue.“
Handeln wir gut oder schlecht? Wir als LeserInnen können Alltagssituationen, in denen wir Tag für Tag entscheiden, wie moralisch wir handeln wollen, in Gedanken auf Zeiten wie Kulturrevolution oder Drittes Reich übertragen. Es ist ein unterhaltsamer und anregender Roman mit einer klaren Botschaft.
Lesenswert und aufschlussreich ist auch das Nachwort, das Ulrich Kautz als Übersetzer für die deutsche Romanveröffentlichung verfasst hat.