18. Januar 2023: Liao Yiwu als Gastredner bei der 2. Stuttgarter Zukunftsrede. Ich mache mir dazu meine Gedanken.

Um es vorweg zu sagen: Die Rede und auch das anschließende Gespräch mit Botschafter a.D. Volker Stanzel haben mich enttäuscht. Ich bleibe ratlos zurück.

Was soll die Zukunftsrede bewirken? Die Veranstalter schreiben:

„Nachdenken über Zukunft mit Persönlichkeiten aus Literatur, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur in Bewegung und zum Leuchten zu bringen, ist einer der zentralen Impulse für die Initiierung der Stuttgarter Zukunftsrede (…) Wir fragen nach Aufbrüchen, Ideen und Entwürfen für unser gesellschaftliches Zusammenleben im Resonanzraum der Geschichte und möchten sie mit dieser Zukunftsdozentur in die Stadtgesellschaft und über diese hinaustragen.“

Zur zweiten Rede wurde nun Liao Yiwu eingeladen. Zweifelsohne der bekannteste chinesische Dissident in Deutschland, ist er für mich über jeden Zweifel erhaben. Absolut bewunderungswürdig sein Kampf ums Überleben und um seine Würde während Inhaftierung und Folter in chinesischen Gefängnissen, seine Beharrlichkeit im Kampf um sein literarisches Schaffen und seine literarischen Werke angesichts der skrupellosen Verfolgung durch chinesische Behörden. Auf die Frage, woher er die Kraft nehme, gegen das chinesische Regime zu schreiben, antwortet er: „Ich brauche keine Kraft von irgendwoher. Ich brauche nur einen Stift.“

In seinen Werken habe ich ein mir vollkommen fremdes China kennengelernt, er gibt den Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft eine Stimme. Darüber hinaus ist er ein sehr fleißiger Schriftsteller, den auch das Leben im Exil (seit 2011) nicht vom künstlerischen Schaffen abhält. Er wurde dafür mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Ihn als Person zu sehen, ist beeindruckend. Er tritt bescheiden und zurückhaltend auf. Und wer dabei zugesehen hat, wie er Johannes Wördemann, der während des Vortrags parallel die Rede in Deutsch vorgetragen hat, am Ende umarmt (und seine Blumen an ihn weiterreicht), der sieht Liao Yiwus Zugewandtheit und Freundlichkeit leuchten.

Quelle: https://www.uni-stuttgart.de/universitaet/aktuelles/meldungen/Stuttgarter-Zukunftsrede-Liao-Yiwu-ueber-unsichtbare-Kriegsfuehrung/

Ich hatte mir mehr Inspiration von der Rede erhofft.

In der Ankündigung hieß es auch: „Welche Zukunft steht China, steht uns in Deutschland mit China, steht der Welt bevor?“ Liao Yiwus Antwort findet ich einerseits gewaltig, andererseits dürftig.

Ich google und finde bei den Kulturseiten des WDR eine kurze Zusammenfassung, die auch ich als Quintessenz herausgehört habe.

Am Montagabend (18.01.2023) prognostizierte Liao Yiwu im Rahmen der „Zukunftsrede“ im Stuttgarter Rathaus, dass „am Ende alle in der Hölle landeten, wenn man diese Tyrannei weiter wachsen lasse.“

Demnach gehen wir auf dystopische Zeiten zu. Wenn es schlecht läuft, landen wir alle in der Hölle.

Was ist zu tun? Wie der Tyrannei begegnen? Das sind für mich die drängenden Fragen.

Liao Yiwu hat für sich seine Antwort gefunden. Er ist Chronist, schreibt alles akribisch auf. Er betreibt »Unsichtbare Kriegsführung gegen ein Land« – in Form seines literarischen Schaffens, das bleiben wird, auch wenn China wie alle Imperien einmal untergehen wird.

Dort, wo das freie Wort nicht frei gesprochen werden kann, werden Sprache und Literatur umso bedeutsamer – um das repressive System subversiv zu unterwandern.

Vielleicht will uns Liao Yiwu zu verstehen geben, dass wir – jede/r einzelne – unsere eigenen Antworten finden müssen. Er will niemandem Vorschriften machen (ebenso wenig wie er, wie er im Interview erzählt, seiner Tochter vorschreiben möchte, wie sie zu China zu stehen habe).

Als Chronist einerseits, als Beobachter andererseits nimmt er sich im Interview doch noch ein Urteil heraus: Zwischen Politikern und Geschäftsleuten gebe es keinen Unterschied, beide Gruppen würden in China nur einen riesigen Markt sehen.

Den Menschen aus dem Westen bescheinigt Liao Yiwu eine große Naivität angesichts des chinesischen Imperiums. Seinen Vorschlag, dieses solle auseinanderbrechen, weil das langfristig besser wäre, finde ich ebenso weltfremd und realitätsfern wie Äußerungen unbedarfter Westler.

Sein Heimatland Sichuan eines schönen Tages frei von Kommunismus, ein demokratisches Land? Der Dystopie stellt Liao Yiwu eine Utopie zur Seite.

Inzwischen ist das Redemanuskript als Buch mit dem Titel „Unsichtbare Kriegsführung: Ein Buch gegen ein Land“ im Klett-Kotta-Verlag erscheinen. Ich werde es lesen und vielleicht Antworten herauslesen, die ich nicht gehört habe.