Am 10. September feiert man in der Volkrepublik China den Lehrertag. In Taiwan begeht man den Lehrertag am 28.September, dem Geburtstag von Konfuzius. Anfang September habe ich Gelegenheit, über die Bedeutung des Lehrertages in China zu sprechen.

Das Verhältnis von Lehrerînnen und Schülerînnen in China hat mich schon immer fasziniert. Die Lehrer-Schüler-Beziehungen in China kann man nicht über einen Kamm scheren und auch bei uns wird der Kontakt der Lehrkräfte zu ihren Schutzbefohlenen vielfältig gestaltet. Es gibt aber kulturelle Unterschiede, die ich für ganz bemerkenswert halte.

Im Internet habe ich einen Hinweis auf eine Monografie zum Thema gefunden: Mei-Ling Liu. Lehrerhabitus an exklusiven Schulen und China und Deutschland. Wiesbaden: Springer VS 2018 (402 S.; ISBN 978-3-658-21274-2)

Verglichen werden darin Beziehungsstile von Lehrerpersonen an Schulen in unterschiedlichen Bildungssystemen (Deutschland und China). Die Autorin charakterisiert auf der Grundlage von Falldarstellungen sechs Typen der Beziehungsgestaltung, von denen in der (im Internet vorliegenden) Buchrezension drei genannt werden:

1) die Orientierung an einer „stark distanzierten hierarchiebetonten Beziehung“,

2) die Orientierung an „sowohl von persönlicher Nähe als auch von Hierarchie orientierter Beziehung“ und

3) einer Beziehungsgestaltung mit „eher symmetrisch orientiertem gegenseitigem Lernen mit persönlicher Nähe“.

Es wird konstatiert, dass viele chinesischen Lehrkräfte, insbesondere Sprachlehrende, „eine diffuse nahe Lehrer-Schüler-Beziehung“ pflegen.

Diese Beziehungsmuster habe ich auch in meinen Begegnungen an chinesischen Schulen und beim Schüleraustausch erlebt.

1) Ich erinnere mich an chinesische Lehrkräfte (Männer wie Frauen), die ihren Unterricht an der Schule wie Universitätsvorlesungen abhielten und die Schülerînnen praktisch nicht persönlich wahrnahmen. Ich habe auch erlebt, wie chinesische Schülerînnen von den Lehrern in aller Öffentlichkeit in – für unsere Verhältnisse –demütigender Weise für Fehlverhalten abgekanzelt wurden (z.B. beim Schüleraustausch in Deutschland, wo die Lehrerdelegation auch kleinste Vergehen der Schülerînnen streng maßregelte).

2) Autorität ist die eine Seite, mütterliche / väterliche Betreuung die andere. Dieses Umsorgen kann weit über das Schulische hinausgehen. Einmal habe ich eine Englischlehrerin zu einem Abendessen begleitet, bei dem sie Schülerin und deren Mutter traf. Es ging um das Englischlernen, Schulwechsel und Auslandsaufenthalt bis hin zu pädagogischen Ratschlägen für die Mutter und aufmunternden Worten an die Schülerin. Ein Changieren zwischen persönlicher Nähe und Betonung der besonderen Stellung der Lehrperson, die Vorbild ist und die Welt erklärt.

3) Und auf der anderen Seite die jungen Lehrerinnen, die wie (ältere) Freundinnen der Schülerînnen wirken. „Ich habe ihr erlaubt, einen Freund zu haben“, erläuterte uns einmal eine Deutschlehrerin die Lernerfolge einer Schülerin. Für unsere Schülerînnen zuerst unverständlich – Wieso tausche ich mich bei diesem Thema mit der Lehrerin aus und wozu brauche ich ihr Okay bei einer so persönlichen Entscheidung? Wir lernen: Die Grenzen in China sind da fließend.

Zur Nähe in China mag beitragen, dass die Klassenlehrerînnen eine besondere Verantwortung für ihre Schützlinge haben. Das ist zwar in Deutschland genauso, gerade in den unteren Klassen des Gymnasiums ist der Kontakt der Klassenlehrerînnen zur Familie aus pädagogischen Gründen oft eng. Bei uns muss die Lehrkraft aber mehr auf Distanz achten, auf Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Es geht meiner Einschätzung nach darum, wie herzlich die Lehrerin / der Lehrer agiert. Auf chinesischer Seite spüre ich echte Herzlichkeit und eine allgemein akzeptierte – auch eingeforderte – von Herzen kommende Fürsorglichkeit.

Es gibt auch Gegenbeispiele. Beim Besuch einer Schülergruppe aus der chinesischen Partnerschule stellten wir fest, dass die Begleitlehrerînnen die Schülerînnen gar nicht namentlich kannten – als eine Schülerin plötzlich eine Heimwehattacke hatte und sie rätselten, welche Schülerin das denn überhaupt sei. Ich habe mir das in der Situation so erklärt, dass keine/r der Begleitpersonen zuhause Lehrer bzw. Klassenlehrer der mitreisenden Schüler war – sie waren ihnen damit sozusagen „fremd“.

In unserem Kulturkreis verstehen wir oft nicht, was es in China mit den „Beziehungen“ auf sich hat. Wir lernen, dass China eine Beziehungskultur hat, aber wir können das sicher oft erst am Beispiel nachvollziehen. Deshalb möchte ich mit Erlaubnis meiner chinesischen Freundin eine Geschichte erzählen: von der Freundschaft ihrer ganzen Klasse zum Chemielehrer Xiaoguang (Ich nenne hier nur seinen Vornamen).

Meine Freundin und ihre Klassenkameradînnen machten 1984 das Abitur in einer mittelgroßen Stadt in Sichuan. Sie sind sich bis heute treu, treffen sich immer wieder zu Klassenzusammenkünften und halten Kontakt, z.B. in Wechat-Gruppen, ganz gleich, wo sich jede/r einzelne niedergelassen hat.

Ihr Chemielehrer in der Gaozhong-Stufe (10.-12. Klasse) war nur sechs Jahre älter als sie, die Klasse war sein erster Abiturjahrgang. Er spielte mit seinen Schülern Basketball und traf sich in der Freizeit mit den Schülerînnen, er nahm sich Zeit zu persönlichen Gesprächen. Auf der Abifeier trug er Lieder auf der Erhu vor. Schülerînnen und Lehrer hielten nach der Schulzeit den Kontakt aufrecht, trafen sich regelmäßig und standen schriftlich in Kontakt.

Leider ist Lehrer Xiaoguang vor kurzem mit erst 62 Jahren verstorben. Die Trauer unter den ehemaligen Schülerînnen ist groß. Ich bin gerührt über die Freundschaft einerseits und die Verehrung andererseits, die dem Lehrer entgegengebracht wird und die in den Zeilen zum Abschied in den wechat-Kommentaren zum Ausdruck kommt. Hier eine kurze Sequenz:

我们兄长般的小广老师广育桃李,风骨永存,小广老师一路走好!愿天堂里有五彩的仙鸟陪伴您!

Unser älterer Bruder, unser Lehrer Xiaoguang, hat eine Vielzahl von Schülern gefördert, seine beeindruckende Persönlichkeit wird nie vergessen sein. Wir wünschen Ihnen alles Gute auf Ihrem Weg! Mögen Sie im Himmel von bunten Feenvögeln begleitet sein!

Interessanterweise hat der Chemielehrer irgendwann den Lehrerberuf an den Nagel gehängt, er wurde ein erfolgreicher Politiker (u.a. Vize-Bürgermeister seiner Stadt). Auf Baidu findet man seinen Lebenslauf. Niemand würde angesichts von Biografie und Foto vermuten, dass Xiaoguang privat ein intensives zweites Leben hatte: Er war ein begnadeter Fotograf, der sich ganz besonders für den Vogelschutz in seiner Heimat Sichuan und Südwestchina einsetzte! Ich habe die Erlaubnis, zwei seiner Fotos zu posten:

Diamantfasan (Fotograf: Xiaoguang, Verwendung nur mit meiner Erlaubnis!)
Himalaya-Rotschwanz (Fotograf: Xiaoguang, Verwendung nur mit meiner Erlaubnis!)

Und so wird auch mir (und Ihnen, die das gerade anschauen) die Freude über die wunderschöne Natur in China durch diese Vogelbilder vor Augen geführt.

Ich stimme in den Chor seiner ehemaligen Schülerînnen mit ein:

Möge Lehrer Xiaoguang auch im Himmel von bunten Vögeln begleitet sein!