Am 23. Januar 2023 hatte ich die Gelegenheit, als eine von zwei Heilbronner Bürgerinnen in der Reihe „Kultur teilen“ an einem Podiumsgespräch teilzunehmen. Die Berliner Autorin Lin Hierse las dabei aus ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“. Moderiert wurde das Podiumsgespräch von der Sensitivity Readerin Yvonne Tang.

Ich möchte dieses Buch vor allem denjenigen empfehlen, die sich zum Beispiel im Studium oder beruflich mit China beschäftigen. Das Buch ist in erster Linie ein literarisches Werk, das höchst lesenswert ist. Es bietet jedoch auch viele Mosaiksteinchen zum Verständnis von China.

In der Ankündigung der Veranstaltung (eine Kooperation der vhs Heilbronn, der Stabsstelle Chancengerechtigkeit und dem Kulturamt Heilbronn) hieß es:

Heilbronns Vielfalt zeigen und Menschen ins Gespräch bringen: Das möchte die Reihe „Kultur teilen“. Diesmal wurde die taz-Redakteurin Lin Hierse als prominenter Gast für die Gesprächsrunde über Themen wie Heimat und Zugehörigkeitsgefühl ausgewählt. In ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ erzählt sie mit feinem Gespür für Sprache von einer Beziehung zwischen Mutter und Tochter und den Fragen nach Identität, Nähe und Abgrenzung.

Hier meine ganz persönliche Erfahrung mit diesem Buch.

Lebensgeschichten

Ich liebe es, Geschichten erzählt zu bekommen, in die ich eintauchen kann. Beim ersten Lesen war ich deshalb an vielen Stellen im Buch nicht ganz zufrieden: Ich hätte gerne mehr erfahren vom Leben der Mutter. Für meinen Geschmack gab es (zu) viele Leerstellen. Ich erkannte rasch, dass ich anders lesen muss, um die erzählte Geschichte zu erfassen. Tatsächlich gibt es über das ganze Buch verstreut viele Hinweise, wie die Mutter ihr Leben gestaltet hat.

人身在自由,成名成家,美好生活。
In Freiheit leben, es zu etwas bringen, eine Familie gründen und ein schönes Leben.

So lautet die Quintessenz der Mutter über ein gelungenes Leben. Jede/r kann sich etwas darunter vorstellen. Dass die Mutter schließlich im Alter einen Garten besitzt, der ausschließlich schön sein darf, ist für mich anrührend. Einen unfassbaren langweiligen Garten, wie die Tochter schreibt, und dennoch ein kleines Paradies. Garten als Rückzugsort und als Ort der Freude, wie bei Tao Yuanming, dem «Feld-und Gartendichter» Chinas.

Sprache in Bildern

Hilfreich ist bei dieser Lektüre ein langsames Lesen, bei dem sich die Bilder, die Lin Hierse durch ihre eingängige Sprache „malt“, vor dem inneren Auge aufbauen. Es sind die vielen Details, die die gestalteten Szenen rund machen. Aufgeschrieben sind viele kleine Beobachtungen, gerade bei den Schilderungen des Familienlebens in Shanghai, wohin die Erzählerin regelmäßig mit ihrer Mutter zum Familienbesuch reist.

Die Art, wie sich die Cousine breitbeinig auf den Plastikschemel setzt, die chinesische Oma, die Tochter und Enkelin den Arm knetet, die Geste, wie sich ein chinesischer Professor beim Zeitunglesen mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken fährt – so entstehen Bilder, die ich aus meiner Zeit in China kenne.

Kommunikation ohne viele Worte

„Wir müssen nicht alles aussprechen“, beschreibt die Erzählerin das Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Mutter erklärt nicht groß, wie sich die Tochter in China verhalten soll. Die Tochter lernt durch Nachahmung und wird damit eine ausgezeichnete Beobachterin. Auch beim Kartenspiel mit den Onkeln in China redet man nicht viel: Wir wissen wenig übereinander, zu wenig, und trotzdem fühlt es sich an, als seien wir einander vertraut.

Am Ende des Romans formuliert die Erzählerin ihre Gedanken an ihre Mutter – vermittelt in einem Brief. Immer noch gibt es Grenzen: Ich kenne Grammatik, Satzbau und Vokabeln. Und trotzdem kann ich nicht alles sagen.

Kommunikation über Berührung

Gesten zählen mehr als Worte. „Manchmal streift mir jemand im Vorübergehen kurz die Hand über die Schultern, und ich kenne kaum eine liebevollere Berührung“, schreibt die Erzählerin.Die Gesten zeugen von gegenseitiger Zuneigung und Fürsorge.

Inspiration

Das Buch ist übervoll an Details, die zum Nachdenken anregen.

Die Themen Mutter-Tochter-Beziehung, Identitätssuche, Nähe und Abgrenzung sind nicht auf eine Kultur festgelegt, sondern kulturübergreifend. Die Darstellung von Leben in zwei Kulturen geht uns alle an, Menschen mit Migrationsgeschichte sehen Parallelen zu ihren eigenen Erlebnissen, Menschen mit deutschen Wurzeln üben sich in Phantasie und Vorstellungskraft: Was bedeutet es, als Migrant:in die angestammte Kultur zu verlassen und sich neu zu verorten?

Vermittlung chinesischer Kultur

Wenn vielleicht auch nicht in erster Linie so intendiert, so bietet die Erzählung viel Zugang zur chinesischen Kultur, eine Studie über die chinesische Lebenswelt, insbesondere der Umgang der Menschen in Familie und Gesellschaft.

Ich habe große Freude daran, mein China, d.h. meine persönlichen Bilder von China, im Roman wiederzuentdecken.

Was ist mit den deutschen Leser:innen, denen dieses – in meinem Fall in vielen Jahrzehnten erworbenes – Kontext- und Hintergrundwissen, also das kulturspezifische Vorwissen über China, fehlt? Wo reichen Assoziationen aus, wo sind die „Grenzen der Interpretation“?

Häufig gibt die Autorin Erläuterungen zu kulturellen Phänomenen: zur Bedeutung von Jadeschmuck, über die Namensgebung oder über die Bedeutung von Glückszahlen bei Telefonnummern.

Im interkulturellen Kontext ergeben sich viele weitere interessante Fragstellungen:

Wie war das in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts, China zu verlassen?

Wie kommt es, dass man ein Lied auf Chinesisch hört und davon ergriffen ist, übersetzt man es auf Deutsch, bleibt nur Kitsch? (am Beispiel 月亮代表我的心)

Warum massiert die Mutter beim Gespräch erst den linken, dann den rechten Fuß?

Über kleine Szenen wird Bezug geschaffen zur außersprachlichen Realität. Es ist damit zu rechnen, dass auch Halbverstandenes und Fehlinterpretationen beim Lesen dazugehören. Fremdheit ist nicht auszuschließen.

Dennoch: Durch diese Ausschnitte der chinesischen Realität entsteht ein kultureller Transfer, der deutsche Leser:innen im besten Sinne neugierig macht.