Lesen ist meine Leidenschaft, Bücher über China sowieso. Ich gehe regelmäßig in einen großen Buchladen im Stadtzentrum Stuttgart. Fündig werde ich in der Abteilung Politik und Zeitgeschehen. In diesem Sommer finden sich in den Regalen viele neue Bücher über China.

Bei einigen Titeln wird mir schummrig:

• China 2049. Wie Europa versagt – von Martin Winter (September 2019)

• China am Ziel! Europa am Ende? Der Kampf um die Führung in der Weltwirtschaft. Warum China 2049 an der Spitze der Weltmächte stehen wird und Europa das Nachsehen hat. Von Christoph Leitl (Mai 2020)

• Das Feuer des Drachen: Was Chinesen antreibt, wo sie dominieren und warum sie über uns lachen. Von Thomas Reichart (August 2020)

Die Botschaft ist klar: Europa versagt, Europa hat das Nachsehen und die Chinesen lachen über uns.

Auch bei der Farbgebung blinzele ich: Auf den Buchcovern dominieren Rot und Gelb, Rot für Rotchina und Gelb für gelbe Gefahr. Selbst bei der harmlosen Familiengeschichte „Und täglich grüßt der Tigervater: Als deutscher Schwiegersohn in China“ aus der Feder des Internet-Stars Thomas Derksen (April 2019).

Büchertisch mit aktuellen Büchern über China
Blick auf aktuelle Bücher über China

Titel und Umschlag-Gestaltung sind Marketing-Instrumente. Sie folgen oft dem Mainstream. Entwickelt sich derzeit ein neues Chinabild? Wird mit Titeln wie „Die lautlose Eroberung“ und einer blutroten Wolke, die sich über die ganze Welt zieht, das neue „Feindbild China“ heraufbeschworen?

Liest man die Bücher, so sind sie oft sehr viel differenzierter und sachlicher, als es der Titel vermuten lässt. Natürlich sind nicht alle Buchbesprechungen durchweg positiv (siehe zum Beispiel die Rezension auf dem Portal für Politikwissenschaft über das Buch „China 2049“). Aber von gestandenen JournalistInnen und WissenschaftlerInnen kann man eine ausgewogene Analyse erwarten. Gut auch, dass es viele neue Bücher und damit viel Information und – hoffentlich – viele Sichtweisen auf China gibt.

Wieso verstört mich diese neue Berichterstattung über China? Als Sinologin, die sich ihr ganzes Leben beruflich mit China befasst hat, muss ich mich den neuen politischen Entwicklungen in China stellen. Wie viele andere habe ich in der Vergangenheit die Freiheiten, die die Zivilgesellschaft in China zunehmend genoss, begrüßt und vielleicht überbewertet. Ich habe einige Zeit benötigt, die neuen Entwicklungen – als Beispiele nenne ich digitale Überwachung, Social Credit System, politische Indoktrination, die Situation in Xinjiang – tatsächlich zu realisieren. Die negativen Schlagzeilen und Berichte in den Medien und in der Literatur versetzen mir Nadelstiche.

Nun als Lehrerin und Chinaexpertin bei SchülerInnen bzw. einer interessierten Öffentlichkeit dafür zu werben, dass wir den Blick über Europa hinaus auf China richten, gleichzeitig die Widersprüche auszuhalten und offen über die – aus europäischer Sicht definierten – Missstände zu informieren, das ist die Kunst! Der will ich mich widmen!

Zurück zu den Büchern und der Farbgebung: Man mag ins Feld führen, dass die Staatsflagge der VR China rot ist und sie gelbe Sterne trägt. Stimmt! Damit zeigt sich, wie vielschichtig Analyse ist, es gibt nicht nur eine Ansicht. Es gibt verschiedene Sichtweisen, verschiedene Weltanschauungen. Für mich bedeutet das: Sich so weit wie möglich informieren, verschiedene Blickwinkel einnehmen, gut nachdenken und dann einen Standpunkt finden, von dem aus man argumentiert. Mit dieser Erkenntnis will ich den Dialog aufnehmen.

Lesen statt reisen? Coronazeit ist leider keine Reisezeit. Vielleicht liest man etwas mehr in diesem Zeiten? Ich stelle mit Freude Literatur von und über China vor.