1985-86 wohnte ich in Beijing im „Friendship Hotel“. Dort lebten damals die so genannten Expert*innen, die für chinesische Institutionen wie Universitäten etc. tätig waren.

Im Speisesaal des Hotels hatte ich eine Weile eine circa 60jährige Britin fasziniert beobachtet. Eines schönen Tages (mit strahlend blauem Himmel, der sich in Beijing damals nahezu täglich zeigte) sprach ich sie vor der Hotel-Bäckerei an: „Ich kenne eine Frau, der Sie enorm ähneln, gar nicht unbedingt vom Aussehen her, sondern von Ihrer Art zu sprechen, zu gestikulieren“. Sie antwortete: „Let me guess, this person lives in Sheringham”.

Volltreffer!

In Beijing – circa 7000 km von Sheringham (im Distrikt North Norfolk) und meiner Heimatstadt Heilbronn entfernt – hatte ich die Zwillingsschwester der von mir sehr verehrten Deutschlehrerin der Partnerschule meines Gymnasiums – Audrey Brayne – getroffen!

Ich habe nun Gelegenheit, über Audrey Brayne zu schreiben. Sie ist im April 2021 fast 94jährig in Sheringham verstorben. Ich werde sie immer in wunderbarer Erinnerung behalten. Sie hat mich sehr beeindruckt und auf meinem Lebensweg entscheidend beeinflusst. Sie war mir ein Vorbild.

Als ich 1971 am England-Austausch meiner Schule teilnahm, fuhr meine Gastfamilie eine Woche vor unserer Rückreise in den Urlaub. Welch ein Glück für mich: Ich durfte für den Rest der Zeit zur Deutschlehrerin Audrey Brayne nach Sheringham ziehen.

Ich erlebte eine offene, stets präsente und resolute Frau, die mit ausgreifenden Schritten allen voranging und alle mitzog. Besonders eindrucksvoll war für mich, wie sie ihren Haushalt schmiss. Sie legte keinen Wert auf übertriebene Ordnung. So geht‘s auch, dachte ich mir damals, und bis heute betrachte ich Hausfrauendasein als riesige Zeitverschwendung. Dafür stand Audrey vor allen anderen auf, um für den Ausflug noch einen Kuchen zu backen.

Sie war enorm tatkräftig. Vier Kinder zog sie als alleinerziehende Mutter groß und arbeitete dabei an der Schule als Deutsch- und Französischlehrerin. Daneben engagierte sie sich in verschiedenen Bereichen ihrer Gemeinde und leitete ein Theater für junge Menschen. Sie setzte sich aktiv für den Umweltschutz ein und war u.a. Mitglied der „Friends of the Earth“. Dabei war sie über alle Maßen kommunikativ und hatte für alle ein offenes Ohr. Sie gab mir als Jugendliche das Gefühl, dass ich ernst zu nehmen sei und meine Wünsche und Hoffnungen unterstützenswert.

Ich war selbst ein Provinz-Ei; deshalb gefiel mir bei Audrey das Kosmopolitische: In Peshawar (heute Pakistan) geboren, in Indien aufgewachsen und in der Jugend weit gereist, studierte Audrey nach dem Zweiten Weltkrieg Fremdsprachen – mit dem Ziel, die internationale Verständigung voranzubringen und an der europäischen Versöhnung mitzuwirken.

So arbeitete sie später nicht nur jahrelang für die Städtepartnerschaft zwischen Sheringham und Otterndorf und nahm mehrmals an Schulaustauschprogrammen ihrer Schule mit einer Partnerschule in Muzillac (Frankreich) teil, sie war auch maßgeblich am Aufbau der Schulpartnerschaft zwischen dem Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium Heilbronn und der Norwich High School for Girls beteiligt.

Diesem Engagement verdanke ich unsere Begegnung.

Nach meinem Aufenthalt in Sheringham besuchte sie im darauffolgenden Jahr meine Familie in Heilbronn, während meines Studiums besuchte ich sie einmal in Sheringham und ich schrieb ihr – wenn ich mich recht erinnere – einige Briefe. Irgendwann erlosch der Kontakt. Da sie aber in enger Verbindung mit einer Lehrerfamilie in Heilbronn stand und ich so Kontakt herstellen konnte, hatte ich das Glück, Audrey nach Jahrzehnten bei ihrem (wahrscheinlich) letzten Besuch in Heilbronn wiederzutreffen. Wir machten einen Waldspaziergang auf der Suche nach Vögeln, denn Vogelbeobachtung war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.

Es lebe das Internet. Denn bei meiner Google-Suche nach Audrey Brayne entdeckte ich ihren Enkel Nick Conrad, einen (ehemaligen) Radiomoderator bei BBC Norfolk. Er hatte 2015 und 2017 über seine „beloved grandmother“ und ihr Leben im Alter berichtet.

Seitdem habe ich immer mal wieder nach Audrey im Internet ausgeschaut. Und nun die Nachrufe der Familie gefunden, einen hier und einen auf den Blogseiten ihres ältesten Sohnes Mark Brayne. Dort findet man auch zahlreiche Fotos aus all ihren Lebensabschnitten. Darunter auch eines aus der Zeit der Siebziger Jahre, so wie ich sie damals kennenlernte.

Ich bin heute Chinesischlehrerin und habe viele Schülergruppen nach China begleitet. Vor kurzem habe ich begonnen, bei der Städtepartnerschaft zwischen Marbach (Baden-Württemberg) und Tongling (Provinz Anhui) mitzuwirken. Die internationale Verständigung liegt mir am Herzen.

Ohne die Erfahrungen und die Inspiration in meiner Jugend hätte ich diesen Weg nicht eingeschlagen.

Danke Audrey!