Ich schwärme für intelligente Frauen und Männer. Besonders begeistert bin ich von Taiwans Digitalministerin Audrey Tang. Sie ist nicht alleine verantwortlich für die Erfolge bei der Veränderung der politischen Kultur in Taiwan, sie spielt dabei aber eine entscheidende Rolle. Durch die Erfolge der taiwanesischen Regierung bei der Corona-Bekämpfung ist ihr Name nun in aller Munde. Ein Porträt.
Geboren wurde Audrey Tang 1981 als 唐宗漢 Táng Zōnghàn. Im Alter von zehn Jahren lebte sie – damals noch als Junge – mit ihrer Familie eine Zeitlang in Deutschland. Später sagte sie einmal, die zehnjährigen deutschen Kinder seien ihr so selbständig und reif vorgekommen wie 16-, 17-jährige in Taiwan. Ob sie das beeinflusst hat?
Tang Zonghan war ein Wunderkind, sie las mit fünf Jahren klassische chinesische Werke und befasste sich mit sechs Jahren mit höherer Mathematik. Interessanterweise bezeichnete sie sich einmal im Interview als „digital migrant“, da sie erst mit circa 10 Jahren Zugang zum Internet fand. Zum Glück traf sie auf ein sehr unterstützendes Umfeld: Eltern und Schulleiter erlaubten ihr, mit 14 Jahren die Schule zu schmeißen. Audreys Begründung für ihren Wunsch: Der Unterrichtsstoff in den Schulbüchern hinke zehn Jahre hinter den neuen Erkenntnissen in der Wissenschaft hinterher. Sie lerne lieber direkt aus dem Internet und den neusten Veröffentlichungen. Demzufolge ist sie bis heute ein Fan von autodidaktischem Lernen.
Audrey enttäuschte ihre Förderer nicht: Sie war ausgesprochen fleißig, interessiert und zielstrebig. Sie übersetzte viele Informatik-Bücher ins Chinesische, gründete mit 16 Jahren ihre erste Firma, arbeitete später bei Software-Firmen wie der Wikimedia-Foundation und Apple. Im Jahre 2012 gehörte Tang zu den Gründern der freien Bürgerbeteiligungsplattform g0v.tw. Mit 33 Jahren (2014) kündigte sie an, dass sie jetzt in den Ruhestand gehe. Tatsächlich engagierte sie sich fortan als politische Hackerin. Sie unterstützte 2014 die Sonnenblumen-Bewegung in Taiwan.
Weitreichende Entscheidung
2005 änderte Audrey Tang offiziell ihr Geschlecht und damit sowohl ihren chinesischen als auch ihren gewählten englischen Namen. Aus Autrijus wurde Audrey, aus Táng Zōnghàn wurde Táng Fèng (der Vorname Feng bedeutet Phönix und beinhaltet zahlreiche kulturelle Anspielungen: Der Phönix ist nach der chinesischen Mythologie der weibliche Gegenpart zum männlichen Drachen). Heute bezeichnet sie sich als „Postgender“. Ihr Auftritt ist sehr ästhetisch, sie trägt gerne Kleidung vom japanischen Modeschöpfer Issey Miyake oder T-Shirts mit Emblemen ihrer derzeitigen Projekte. Als Person wirkt sie präsent, konzentriert und sanft – letzteres mag damit zu tun haben, dass sie als Kind eine Herzkrankheit hatte und immer langsam tun musste. Nur sprechen – das tut sie schnell und sie ist dabei absolut eloquent.
Ein Foto von Audrey Tang, glücklicherweise wie alles, was sie macht, als Creative Commons (CC) Lizenz: CC BY 4.0 by Kaii Chiang and Audrey Tang
Jüngste Ministerin Taiwans
Mit dem Ruhestand wurde es nichts: Seit 2016 ist Audrey Tang die jüngste Ministerin Taiwans – sie fungiert als Digital Minister für „Social Innovation, Open Government, and Youth Engagement“ (Ministerin ohne Portfolio).
Ihre selbst verfasste Jobbeschreibung für den Ministerposten zitiert Audrey in Interviews immer wieder gerne:
When we see “internet of things”, let’s make it an internet of beings. When we see “virtual reality”, let’s make it a shared reality. When we see “machine learning”, let’s make it collaborative learning. When we see “user experience”, let’s make it about human experience. When we hear “the singularity is near”, let us remember: the plurality is here.
Klingt nicht wie eine Regierungsdevise, eher wie ein Gedicht? Kein Wunder, dass sich Audrey Tang humorvoll selbst als „poetician“ bezeichnet. Als „konservativer Anarchist“ arbeite sie weder für die Regierung noch für die Bürger/innen, sondern als „a kind of conduit between the two“, betont sie immer wieder.
Was ist das Besondere an Audrey Tangs Arbeitsstil als Ministerin?
• Als erstes ist zu nennen: absolute Transparenz! Alles was Audrey Tang im Amt sagt, wird protokolliert und online veröffentlicht.
• Accountablility: In Taiwan hat jeder Bürger das Recht auf Internetnutzung. Klappt die Breitbandversorgung nicht, ist das, wie Audrey Tang sagt, ihr ganz persönlich anzulasten, als ihr Versäumnis.
• Bürgernähe: Einmal pro Woche steht Audrey Tang Bürgern zu 4o-minütigen Interviews zur Verfügung. Jeder kann sich melden. Außerdem reist sie einmal in der Woche zu Treffen mit Bürgern, wo diese ihre Fragen stellen und Vorschläge zur Verbesserung der Regierungsarbeit vorbringen können.
• Digitale Demokratie: Audrey Tang ist am Aufbau der digitalen Beteiligungsplattform (vTaiwan) für alle Bürger/innen beteiligt. Ziel ist es, dass alle Bürger/innen am politischen Diskurs und an der politischen Entscheidungsfindung teilnehmen können.
• Pluralität: Nach Audrey Tang soll jede/r eine Stimme bekommen. Diejenigen, die sich nicht so einfach verständlich machen können, denen es am schwersten fällt, aber auch Flüsse, Berge haben eine Stimme und alle, die noch nicht geboren sind.
• „Humanes Internet“: Audrey Tang tritt für ein Internet ein, das allen offen und frei zur Verfügung steht, das nicht in Intranets zerfällt.
• Arbeitsauffassung: Audrey Tang arbeitet daran, dass sich weltweit „collaborative work“ durchsetzt.
• Zielvorgabe: Künstliche Intelligenz, englisch „Artifical Intelligence“, definiert Audrey Tang als „Assistive Intelligence“.
Einen guten Einstieg, um Audrey Tang kennenzulernen, bieten ihre beiden TED-Talks vom Dezember 2019 und vom Juni 2020 mit vielen weiteren Informationen über Details ihrer Arbeit.
Zum Schluss: Einige ihrer zahlreichen Zitate
Audrey Tang sagt so kluge, inspirierende und hoffnungsvoll stimmende Dinge wie:
We have a responsibility to show that democracy works, and not just lockdown or top-down or takedown.
https://restofworld.org/2020/audrey-tang-the-conservative-anarchist/
If we can delineate the core of the internet, we can survive totalitarianism and fascism. But if we don’t take care, the internet will balkanize into many intranets. We should guard it very carefully. We have to keep defining what is the inter in internet.
https://framerframed.nl/dossier/audrey-tang-we-have-to-keep-defining-what-is-the-inter-in-internet/
Democracy improves as more people participate. And digital technology remains one of the best ways to improve participation — as long as the focus is on finding common ground and creating consensus, not division.
https://www.nytimes.com/2019/10/15/opinion/taiwan-digital-democracy.html
In Taiwan, we deliberately say digital competence not literacy because we want children to be producers, not just consumers of media. In the same vein, we call what the Western World call software engineers. In Taiwan, it’s called program designers. We deliberately choose the word design because this is far more gender neutral than the term engineer.
https://www.ranasblog.com/interviews-1/interview-with-audrey-tang-taiwanese-digital-minister-and-tech-innovator
I am not taking any particular side. I am taking all the sides. I think it’s easier for us because we don’t have this binary thinking. We don’t think that there’s half of the world that’s different from us.
https://www.bangkokpost.com/world/1941524/taiwans-conservative-anarchist-transgender-cabinet-member
In meiner Vortragsreihe stelle ich Audrey Tang in der Reihe bedeutender chinesischer Persönlichkeiten Who is Who in China vor.
Bei Interesse freue ich mich auf Ihre Anfrage: mail@chinesischunterricht.de