Schüleraustausch stellt für junge Leute aus China und Deutschland eine exzellente Möglichkeit dar, sich in entspannter Atmosphäre kennenzulernen. Bei gemeinsamen Aktionen in der Schule und in der Freizeit kommt man sich näher – auch ohne Worte. Ich plädiere beim Schüleraustausch unbedingt für viel gemeinsam gestaltete Zeit mit Sport, Spiel, Theater und Musik.

Selbstverständlich möchte man sich auch im Gespräch kennenlernen. Aber: Vorüber reden, in der Gastfamilie, mit dem Austauschpartner und in der Schule? Welche Themen eignen sich für gemeinsame Projekte und Gruppendiskussionen? Man tut gut daran, diese Frage schon im Vorfeld zu besprechen – nach Möglichkeit unbedingt im Austausch mit der Partnerschule. Mein Vorschlag: Man wählt Themen von gemeinsamem Interesse und lässt Vorsicht walten im Umgang mit Themen, die heikel sein könnten.

Darf man in China alles fragen und besprechen?

Bei der letzten Sitzung der Lehrerfortbildungsreihe der China-Schul-Akademie wurden zwei Experten eingeladen, über ihre China-Erfahrungen zu berichten. Felix Lee nahm Stellung zum Thema Gesprächskultur in China. In China könne man eigentlich alles fragen und besprechen, lautet sein Credo. „Denn die Chinesen haben wenig Hemmungen und fragen direkt und neugierig. Aber: Es kommt auf das Setting an!“ Es werde deutlich getrennt zwischen einem „öffentlichen Rahmen“ und privatem Austausch.

Schule ist öffentlicher Raum

Wichtig sind im Rahmen des Schüleraustausches an der chinesischen Partnerschule alle offiziellen Aktionen. Bei Empfängen, etwa im Büro des Schulleiters zur Begrüßung oder Verabschiedung oder beim offiziellen Bankett geht es in aller Regel förmlich zu. Nicht selten ist der Ablauf vorgeschrieben. Man bekommt eventuell klare Vorgaben, wie das Treffen ablaufen wird. Es empfiehlt sich, kleine Reden vorzubereiten – die vielleicht sogar von Schüler*innen vorgetragen werden können. Als Gäste an der Schule bewegt man sich im öffentlichen Raum.

Schulen in Chinas stehen schon immer unter strenger Beobachtung von Eltern und übergeordneten Behörden. Die Institution Schule ist verantwortlich für die pädagogische, aber auch die ideologische Erziehung der Schüler*innen. Der Schulleitung darf kein Lapsus passieren, man achtet außerordentlich auf korrektes Verhalten aller Akteure und störungsfreien Ablauf des Schullebens. Dies gilt umso mehr, wenn ausländische Gäste zu Besuch sind. In diesem Bereich wäre ein Fehler ein ernstzunehmender Gesichtsverlust. Wenn etwas schief geht, kann der Schule die Erlaubnis, mit ausländischen Schulen Kontakt zu haben, von übergeordneter Stelle entzogen werden.

Dennoch haben die Schulleitungen einen gewissen Spielraum, und es hängt oft vom Schulleitungsteam ab, wie tolerant es eingestellt ist, wie gelassen man an der Schule mit heiklen Fragen umgeht und welche Dialogräume geöffnet werden. Freiräume werden insgesamt in den letzten Jahren kleiner, der Anpassungsdruck in der chinesischen Gesellschaft größer. Es gilt auszuloten, wie offen und frei die Begegnung sein kann. Dazu ist es sehr hilfreich, wenn man ein gutes Verhältnis zur Kontaktperson der Schule aufbauen kann. Für uns frappierend ist auch immer wieder der schnelle Wechsel zwischen Offiziellem, d.h. dem öffentlichen Raum, und Privatem. Ist der Etikette genüge getan, geht es rasch wieder zwanglos zu.

Das Thema Politik an der Schule

Universitäten in China spielen derzeit eine zentrale Rolle als „Festungen der Parteiführung“ im Reideologisierungsprozess unter Xi Jinping. Auch die Schule ist von dieser neuen Tendenz zur Vereinheitlichung des politischen Denkens nicht ausgenommen. Selbstverständlich ist Politik ein wichtiges Schulfach, nie ist mehr Zeit zur ideologischen Erziehung als in der Schule und an der Universität. Auch wenn wir das als Außenstehende im Schulbetrieb nicht spüren, so ist doch die Schulleitung – alle Vertreterinnen sind in der Regel Parteimitglieder – Staat und Partei besonders verpflichtet. Ich habe allerdings – auch bei sehr vertrauensvollen Beziehungen mit chinesischen Kolleg*innen – nie nach der Parteizugehörigkeit gefragt. Es war eine Selbstverständlichkeit, nie ein Thema.

Ich erinnere mich an einen Ausflug, bei dem ich die einzige Ausländerin in einer Gruppe von Schulleitern verschiedener Schulen war. Zu Beginn des Abendessens ergriff eine Schulleiterin das Wort und lobte – für mich relativ unvermittelt – Deng Xiaoping und die Reform-und Öffnungspolitik, „ohne die das chinesische Bildungswesen nie solche Fortschritte gemacht hätte wie in den letzten Dekaden“. Damit war diesem Thema offensichtlich genüge getan und man ging zu anderen Dingen über. Der Vergleich mit einem Tischgebet sei mir gestattet – kam das offizielle Statement aus ganzem Herzen oder war es nur Ritual?

Man hat den Eindruck, dass man in China heute dazu angehalten wird, die offizielle Politik etwas aktiver zum Thema zu machen und positiv herauszustellen. Zum Jubiläum der Gründung der VR China, zum 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei – auch von Personen, die sich bisher wenig politisch geäußert haben, erhält man plötzlich über Wechat Fotos von den Paraden in Beijing und patriotischen Aktionen an den Partnerschulen. Auch hier habe ich den Eindruck: Viele sind überzeugt, andere richten ihr Mäntelchen nach dem Wind.

Tabuthemen: Drei T + ein X

Es gibt durchaus einige Tabuthemen, mit denen man das in aller Regel herzliche Verhältnis mit der chinesischen Seite empfindlich stören kann und die man kennen sollte. Als Tabuthemen galten früher insbesondere im Geschäftsleben die „drei T“: Tian’anmen, Taiwan, Tibet.

1 Die Ereignisse von 1989 auf dem Tian‘anmen-Platz in Beijing sind heute weitgehend aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht, so dass junge Menschen in China mit diesem Thema gar nichts mehr verbinden. Zum dreißigsten Jahrestag des Massakers 2019 wurde das Thema in den westlichen Medien wieder aufgegriffen. Erinnert wurde an die „Tian’anmen-Mütter“, die seit 30 Jahren drei Forderungen an die chinesische Regierung stellen: „Wahrheit, Entschädigung und die Suche nach den Schuldigen.“ Die Regierung sagt, das Thema sei abgeschlossen.

2 Die Taiwan-Frage ist aktueller denn je. Die VR China betrachtet Taiwan als „unabtrennbaren Bestandteil des chinesischen Territoriums“. Seit der Wahl der DPP-Politikerin Tsai Ing-wen zur Präsidentin Taiwans, die als „Verfechterin einer möglichst weitgehenden Unabhängigkeit von Peking gilt, hat sich das Verhältnis zwischen der Volksrepublik und Taiwan seit 2016 nach Jahren der relativen Entspannung und wirtschaftlichen Zusammenarbeit wieder bedenklich verschlechtert.

3 Um das Thema Tibet ist es ruhig geworden, auch wenn die Konflikte keinesfalls gelöst sind. Heute stehen die Ereignisse in Xinjiang im Nordwesten Chinas im Fokus. Seit Jahren wird der chinesischen Regierung vorgeworfen, die dort lebenden Uiguren systematisch zu unterdrücken. Nach Zeugenberichten und durch Berichte nach der Veröffentlichung von Geheimdokumenten („China Cables“) sollen rund eine Million Uiguren in Xinjiang in Lagern festgehalten werden.

Alle drei Themen sind also immer noch mit äußerster Vorsicht zu behandeln, zu den „Drei T“ gesellt sich ein X für Xinjiang. Meiner Ansicht nach sind diese Themen zu „groß“, um sie beim Schüleraustausch zu besprechen. Es besteht die Gefahr, den chinesischen Partner vor den Kopf zu stoßen, und statt Vertrauen aufzubauen, zwingt man ihn in die Reserve. Es gibt so viele unverfängliche Themen von gemeinsamem Interesse! Nicht nur Chinesinnen haben den Wunsch, dass das gemeinsame Treffen harmonisch verläuft.

Frau Merkel und der Dalai Lama

Tatsächlich habe ich auch schon erlebt, dass chinesische Partnerinnen unbedingt mit uns über Politik sprechen wollten. Zum Beispiel im Jahr 2008, als sich im Vorfeld der Olympischen Spiele in Beijing Frau Merkel mit dem Dalai Lama getroffen hatte. Wir hatten an unsere Schüler*innen von Schulseite aus klar vorgegeben, dass beim Schüleraustausch über Politik nicht gesprochen werden sollte. Nun pochten unsere Gastgeber darauf, unsere Meinung zu diesem Thema zu hören. Bei einem Besuch im Krankenhaus, zu dem ich einen Schüler in den Abendstunden begleitete, sprach mich der Arzt nach abgeschlossener Behandlung auf das Treffen zwischen Merkel und Dalai Lama an. Er hätte sich immer ein deutsches Auto kaufen wollen, weil er deutsche Technik bewunderte, das werde er nun nicht mehr tun. Ich fühlte mich absolut verpflichtet zu antworten, wich aber einer persönlichen Stellungnahme aus und argumentierte mit der Meinungsvielfalt in Deutschland, nicht alle Deutschen wären der Meinung von Frau Merkel.

Wer ist hier desinformiert?

Besonders groß wurden die Augen unserer Schüler*innen bei Schülerbegegnungen in früheren Jahren, wenn die chinesischen Schüler*innen ihnen bei Gesprächen über Politik entgegenhielten, dass sie durch die westliche Presse ideologisiert und fehlinformiert seien. Wir dachten uns das doch immer gerade entgegengesetzt!

In China ist man allgemein der Ansicht, dass westliche Berichterstattung über China einseitig negativ und damit unglaubwürdig sei. Bei einer Umfrage unter jungen Chinesen, veröffentlicht in der Global Times im April 2021, gaben circa 25% der Befragten an, der Berichterstattung westlichen Medien schon immer misstraut zu haben, 35,9% sagten, sie hätten in den letzten 5 Jahren Vertrauen verloren in die Glaubwürdigkeit westlicher Medien. Von offizieller Seite wird fleißig am Narrativ der Fake News über China in westlichen Medien gestrickt.

Dieser Tatsache müssen wir ins Auge sehen. Zurückzuschlagen mit dem Argument, dafür gebe es in China Zensur, kann nicht weiterhelfen. Hier sind wir – wenn wir antworten wollen – gefordert, demokratische Strukturen zu erklären und dazu Stellung zu nehmen.

Neues Selbstbewusstsein

Das Beispiel von 2008 ist aufschlussreich. Damals waren die meisten Chinesinnen stolz darauf, dass die Olympiade endlich in China stattfinden würde. Man freute sich darauf, der Welt China als gastfreundliches und weltoffenes Land zu präsentieren. Ähnlich wie in Deutschland die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 stärkte die Austragung der Olympischen Spiele in Beijing das nationale Selbstbewusstsein.

Die Situation 2008 ist mit heute sehr gut vergleichbar. China hat neues Selbstbewusstsein gewonnen. Die Erfolge beim Umgang mit der Pandemie, beim Wirtschaftswachstum und bei der Belt-and-Road-Initiative werden propagiert und bejubelt. Junge Chines*innen verspüren mehr „self-confidence“, Selbstvertrauen im Umgang mit der westlichen Welt. Patriotische Gefühle sind gestärkt worden. In diesem Umfeld ist es vorstellbar, dass man in China heute eher als früher bereit ist, über politische Themen zu sprechen. Ich bin der Meinung, wir sollten dafür gewappnet sein.

Widerspricht das meiner oben beschriebenen Haltung, bei der Themenwahl Vorsicht walten zu lassen und bestimmte Themen auszuklammern? Ich bin der Meinung: In Rome do as the Romans do. Chinesisch:
客随主便 Der Gast folgt dem Gastgeber!

Seien wir vorbereitet, und lassen wir uns überraschen!